Fotos Jessica Drosten & PR
Text Fabian Hart
Mitten am Mittelmeer, am südlichsten Punkt der Provence, liegt – völlig zurückgezogen von seinen prätentiösen Nachbarn Nizza, Monte Carlo und Cannes – ein Ort namens Hyères. Manche fahren dorthin um zu kiten, ansonsten hat man seine Ruhe. Früher machte man hier Badeurlaub, aber die meisten schwimmen lieber ein paar Orte weiter im Geld. Das war nicht immer so. Hyères ist das Cannes von gestern – im 18. Jahrhundert fuhr Königin Viktoria hier her und ihr folgte die englische Oberschicht. Man sagt, hier in Hyères sei der Tourismus Frankreichs geboren. Aber das ist längst Geschichte.
Einmal im Jahr aber feiert Hyères seine goldene Zeit und macht sich chic. In der Villa Noailles, einer ehemaligen Sommerresidenz des Pariser Intellektuellenpaars Noailles aus den 1920er Jahren, weit oben auf den Felsen, mit Blick auf die Bucht von Hyères.
Hier findet jedes Jahr das Festival International de Mode & de Photographie statt und damit verbunden der wichtigste Förderpreis der europäischen Mode. Victor & Rolf wurden hier entdeckt, Henrik Vibskov und auch Felipe Oliveira Baptista (Lacoste), unter anderem.
Die verwinkelten Räume der Villa und ihre nicht weniger kubistisch geprägten Gärten und Terrassen werden dann für vier Tage das zu Hause von zehn Fotografen, zehn Stylisten und zehn Modedesignern, die hier ihre Bilder, Looks und Kollektionen der internationalen Presse und anderen Besuchern präsentieren. Aber denkt bloß nicht, das sei so eine Art Fashion Week. Nichts hier in Hyères erinnert daran.
Als ich am Freitag zur Akkreditierung am Presse-Counter stand, erinnerte sich die PR Lady Valérie noch an unseren Emailverlauf und schien, war und blieb auch die nächsten Tage so entspannt, wie jeder hier. Das mag an der Festival-Atmosphäre liegen, am Mittelmeerklima und am unglaublichen Pornorama. Aber auch daran, dass hier in Hyères niemand auf dicke Hose macht, keine Fashion Clowns abhängen und auch keine Street-Style-Fotografen.
Nach Hyères kommen keine Modetouristen. Wer hierher reist, tut das nicht der Parties (es gibt nur wenige schlechte), des Prestige und der großen Labels wegen, sondern will wirklich Neues sehen, den Machern der Mode von morgen auf Augenhöhe begegnen, und nicht nur ihnen, auch der Jury des Grand Prix Grand Prix du Jury Première Vision.
Vorsitzende waren dieses Jahr Humberto Leon und Carol Lim, Gründer von Opening Ceremony und Kreativdirektoren von Kenzo, außerdem waren Schauspielerin Chloe Sevigny, Regisseur Spike Jonze und Jay Massacrat (Fashion Director V Magazine) Teil der Jury. Am Sonntagabend standen die Gewinner fest. Der Japaner Kenta Matsushige gewann den Grand Prix mit seiner Frauenkollektion „Hinabi“, deren Formen an die Architektur japanischer Museen erinnern sollen, aber auch an die Strukturen von Augmented-Reality-Gebilden.
Meine persönliche Favoritin war Roshi Porkar, die aus Österreich kommt und persische Wurzeln hat. Ihre Kollektion ist eine Art Reise zwischen Retro-Futurismus aus den 1970er Jahren und 2000 v. Chr. Die Silhouetten ihrer Kollektionsteile erinnern an die Formen baktrischer Prinzessinnen, also an die jahrtausendealt Steinfiguren der Landschaft am Hindukusch, heute zum Großteil Afghanistans zugehörig. Die Volumen hat sie durch Fake-Fur-Stoffe und anderen Knüpfwaren erreicht. Gleichzeitig sind ihre Looks auch von Sci-Fi geprägt, sie nahm sich Prinzessin Amidala zum Vorbild. Sie wurde dafür in Hyères mit einem Förderpreis von Chloé ausgezeichnet.
Die Kleider von Anne Kluytenaar dagegen erzählen eine persönliche Geschichte. Ich traf sie zum Re-See nach der Show und sie erklärte mir die Hintergründe ihrer Kollektion, die klassische Chanel-Kostüme in Männermode umsetzt. Die Idee dazu ist in ihrer eigenen Biografie verwurzelt, oder vielmehr in der ihres Vaters. Ihr Vater lebt seit ein paar Jahren öffentlich als Frau, nachdem er sich vor seiner Familie als im falschen Körper geboren outete. Die Physiognomie ihres Vaters war und blieb maskulin, daran konnte auch Frauenmode nichts ändern. Also begann Anne, die Architektur von Womenswear zu dekonstruieren und neu aufzubauen. Leider gewann sie keinen Preis. Ihr Vater, den sie nach wie vor so nennt, lernten wir auch in Hyères kennen. „I still call her my father, but I see her as a woman now.“
Noch mehr Männermode gab es von der Lettin Agnese Narnicka. Ihre durchsichtigen Hüte aus Acryl gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, und auch ihre anderen Looks für männliche Städtewanderer.
Yulia Yefimtchuk zeigte kyrillische Botschaften auf Trachten und Arbeitskleidung der Ukraine, etwa „Every Day Becomes Better“. Das soll aber keine politische Progonse für die momentane Politik der Ukraine abbilden, sondern ihren emanzipatorischen Grundgedanken. Sie wurde spontan mit einem Preis ausgezeichnet, den Humberto Leon und Carol Lim sich ausdachten. Yulias Mode wird schon bald in ihren Multibrand-Stores zu kaufen sein.
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